„Tomorrow Land“ ist nach „Grenzlandtage“ Ihr zweites gemeinsames Buch. Wie kam es zur erneuten Zusammenarbeit?
Antonia Michaelis: Nach der Europawahl, in der die zunehmende Nationalisierung in Europa und in Deutschland extrem sichtbar wurde, hatte ich das Gefühl, man müsste etwas tun.
Ursprünglich sollte das Buch vor der Bundestagswahl erscheinen, die dann ja vorgezogen wurde.
Peer und ich haben damals telefoniert und über Deutschland gesprochen, er sieht die Dinge auch von Kanada mit Besorgnis. Zum ersten Mal habe ich seit langem wieder ernsthaft darüber nachgedacht, wegzugehen, wie Peer und Cathrine es damals mit ihren Kindern getan haben.
So hatten wir einen Blick von außen auf Deutschland und einen Blick von innen, und irgendwie entstand in diesem Gespräch die Idee eines Romans über die Folgen der Entwicklung, die zurzeit stattfindet – was wird, wenn man einfach alles konsequent weiterdenkt. Das fanden wir beide interessant.

Peer Martin: Die derzeitige globale Entwicklung der Nationalisierung, gerade in Europa, wirkt von Kannada aus betrachtet sehr erschreckend. Von außen darüber zu schreiben, ohne dort zu sein, würde aber sicher zu verfälschten Ergebnissen führen.
So kam die Idee auf, es mit einer Zusammenarbeit zu versuchen. Auch bei Grenzlandtage hatten wir ja schon das Thema GRENZEN, hier ist es wieder, es scheint uns beide zusammenzubringen.
Wie sah Ihre Zusammenarbeit konkret aus – haben Sie abwechselnd Kapitel geschrieben, Figuren aufgeteilt oder gemeinsam geplottet?
Antonia Michaelis: Im Gegensatz zu den Grenzlandtagen, in denen wir beide an der Perspektive der Hauptprotagonistin gearbeitet und teilweise dann viel wieder umgeschrieben haben, haben wir diesmal die Figuren ganz klar getrennt. Ich habe Hannes geschrieben, Peer Greta.
Danach haben wir wechselseitig korrigiert.
Dabei entsteht immer ein ziemliches Hin und Her, und da die Zeitverschiebung es oft schwer macht, Dinge einfach am Telefon zu besprechen, hat man am Ende meistens zu viele Dateien …
Der ursprüngliche Plot entstand natürlich vorher, ist aber vor allem am Ende noch einmal geändert worden, weil keiner von uns wirklich sterben wollte.
Gab es unterschiedliche Schwerpunkte oder Perspektiven, die jeder von Ihnen eingebracht hat?
Peer Martin: Antonia hat sich um Hannes gekümmert, ich mich um Greta, das war eine Idee meiner Frau, die eins unserer Gespräche mithörte und sich über unseren vielleicht zu großen Ernst ein bisschen lustig machte.
Sie ist der Meinung, dass wir die Welt mit einem Buch sowieso nicht retten können, da hat sie natürlich recht, und man sollte sich seinen Humor bewahren …
Als Nachfahrin jüdischer Auswanderer muss man vermutlich zynisch sein, sie lacht mich immer ein bisschen aus, wenn ich versuche, etwas Ernstes zu schreiben. Aber das ist in Ordnung.
Was war Ihnen besonders wichtig bei der Darstellung des autoritären Systems? Welche Warnungen wollten Sie mit dem Roman aussprechen?
Antonia Michaelis: Eigene Werke zu interpretieren sollte nicht notwendig sein. Wer den Roman liest, wird die Warnung verstehen. Wenn nicht, haben wir einen schlechten Roman geschrieben.
Peer Martin: Europa läuft Gefahr, ein genau solches System wieder zu etablieren. Ich denke aber, das ist jedem klar.
Die Klimakatastrophe prägt das gesamte Setting des Romans – wie wichtig war es Ihnen, ökologische Zusammenhänge mit politischen und sozialen Folgen zu verknüpfen?
Antonia Michaelis: Die haben nicht wir verknüpft, die sind schon verknüpft – in der Realität. Politik ist ja kein abgehobenes Wesen, das irgendwo in der Luft über unseren Köpfen schwebt. Politik entsteht aus Fragen ökologischer und daher wirtschaftlicher – und sozialer Natur.
Und beeinflusst beide wieder.
Die Darstellung von Migration in „Tomorrow Land“ ist sehr drastisch. Wie viel Realität steckt in der Vision einer abgeschotteten Festung Europa?
Peer Martin: Von uns aus betrachtet 100%. Seit Jahrzehnten sind die Lager vor den Grenzen überfüllt. Vieles wird von den Menschen in Europa gerne vergessen, vor allem von Ländern wie Deutschland, das ja keine europäische Außengrenze hat.
Antonia Michaelis: Die Darstellung von Migration im Roman ist einfach nicht vorhanden. Weil Migration verboten wurde. Jedenfalls Immigration. Emigriert wird immer noch, da die Menschen nach wie vor hoffen, dass es anderswo besser ist.
Ich schreibe diese Zeilen im Mai 2025. Die Grenzen sind geschlossen. Genau wie im Roman.
Genau das, was wir entworfen haben, hat begonnen, einzutreten. Und schon als wir schrieben, war es ja – seit Jahrzehnten – so, dass immer viel mehr Menschen emigriert sind als immigriert, vor allem auf der Mittelmeerroute.
Getrieben von Verzweiflung lassen sich diese Menschen auf Schlepper ein, erreichen, wenn sie viel Glück haben, lebend den Kontinent Europa, werden aber aus den Lagern dort nicht wieder weggelassen, befinden sich in einer Art ewigem Transit, leben seit Generationen z.B. in griechischen Flüchtlingslagern wie in Gefängnisse, ohne Hoffnung darauf, dass es irgendwann für sie „weiter geht.“ Das alles findet quasi vor unseren Augen statt, aber niemand sieht hin.
Griechenland oder andere Mittelmeerländer sind auch nicht schuld an diesem Unglück. Das ist die europäische Gemeinschaft, die die Länder, die das Pech haben, eine Außengrenze zu besitzen, mit dem Problem schlichtweg allein lassen.
Unsere Lösung: Mehr Leute im Mittelmeer ertrinken lassen, wir stecken Geld in Frontex, die illegale Rückschiebungen und noch schlimmeres anrichten, und darauf sind wir noch stolz.
Lösung Nummer zwei: Libyen dafür bezahlen, die Flüchtlinge aus anderen Ländern, die sich dort sammeln, in Folterlager zu stecken, die wir nicht als solche betiteln. Das ist keine Erfindung des Romans, es ist bittere Realität.
Den Familien der Opfer wird das letzte Geld abgepresst, und manchmal überleben die Insassen, kommen allerdings nie, wie sie es geglaubt hatten, nach Europa. Dafür sorgt unser Geld. Das wird dann propagiert als „Hilfe vor Ort, um Fluchtbewegungen zu verhindern.“
Argument ist immer: Wir sind ja nicht schuld, dass es den Leuten in Afrika, Asien, sonst wo schlecht geht. Das ist eine faustdicke Lüge.
Unsere Wirtschaft und unsere Gier nach billigen Rohstoffen und Produkten sorgen genau wie unser CO2-Ausstoß oder die Abfischung der Schwärme vor der afrikanischen Küste sorgen dafür, dass die Menschen dort keine Lebensgrundlage mehr haben, ihr Grundwasserspiegel sinkt usw.
Selbst den Sand ihrer Küsten brauchen wir – für Beton, und kaufen ihn gerne von den dortigen Regimen, während wir zu Hause jedes Blümchen von der roten Liste schützen und unsere Kinder mit Lastenfahrrädern zum nachhaltigen Kindergarten fahren und uns ganz prima fühlen.
Was möchten Sie jungen Leser*innen über globale Zusammenhänge und Verantwortung vermitteln?
Peer Martin: Ich wünsche mir, dass sie einmal über die Schuldfrage nachdenken. Immer hört man, WIR wären ja nicht schuld am Elend anderer Länder – was absolut nicht stimmt, jeder einzelne, der die dort billig hergestellten Produkte kauft, der in Häusern lebt, in denen Beton verbaut wurde (der wieder aus Sand anderer Länder hergestellt wird), der Batterien nutzt, deren Rohstoffe im Boden dieser anderen Länder waren … jeder einzelne trägt eine Mitschuld. Schuldig sind auch die, die schweigen.
Eine Entwicklung stattfinden zu lassen, ohne die Stimme zu erheben, ist keine Neutralität, sondern Schuld. Oft sind die Deutschen ja „nicht Schuld“ am 2. Weltkrieg gewesen.
Hier war es genauso wie es heute ist: Wer die Stimme nicht erhoben hat, hat sich schuldig gemacht.
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, und ein System kann sich nie ohne Jasager etablieren.
Hannes startet als unpolitischer Kleinkrimineller. Wie entstand diese Figur, und wie bewusst war die Entscheidung, einen „Antihelden“ in den Mittelpunkt zu stellen?
Antonia Michaelis: Sowohl Peer als auch ich haben mit Jugendlichen aus „schwierigen Verhältnissen“ gearbeitet. Warum sollten immer nur Gymnasiasten die Welt retten?
Mehr gibt es doch von den anderen. Und es wird noch mehr geben, wenn die Bevölkerungsstruktur sich geradlinig weiterentwickelt. Die „da oben“ vermehren sich nämlich nicht gern. Das tun nur die „da unten“, die das Kindergeld brauchen.
Außerdem ist Hannes gar kein Anti-Held. Er ist einfach nur gar nichts. Er ist kleinkriminell aus der Not heraus, aus seinem Milieu heraus. Genau wie junge Menschen, die ich kenne.
Einige meiner ehemaligen Schüler sind am Ende im Gefängnis gelandet, aus den dümmsten Gründen. Schulden nicht bezahlt – zack.
Hannes macht eine Entwicklung durch, fängt an zu denken – zunächst durch Zufall, dann, vor allem, durch Moa. Ich kenne einen ganz ähnlichen Fall. Freundschaft mit einem „Fremden“ bewirkt mehr als jeder Unterricht, jede Aufklärung. Wer persönlich das „Andere“ kennenlernt, wovor er sich bisher gefürchtet hat, beginnt, sich zu ändern.
Diese Entwicklung finde ich interessant.
Ein Held, der von Anfang an ein Held ist, ist literarisch gesehen aber ohnehin komplett uninteressant.
Peer Martin: Er ist ja nicht einmal anti. Er ist einfach nur ein verlorenes Kind in einer Welt, die er gar nicht versteht. Bildung ist ein Knackpunkt, Hannes hatte keine. Dennoch begreift er irgendwann, dass auch er sich durch Nichtstun eigentlich schuldig macht.
Der Konflikt in ihm – Rette ich wirklich nur meine Haut oder notfalls noch meine Familie – oder tue ich doch mehr? – treibt ihn bis zum Ende um. Konfliktfreie Personen, die sofort hingehen und die Welt retten, sind eher dumm – und auch uninteressant.
Greta-Anna stammt aus einem privilegierten Hintergrund. Wie entwickelt sich ihre Haltung im Lauf der Geschichte – und was sagt ihre Figur über Anpassung und Mitgefühl?
Antonia Michaelis: Sie ist eigentlich von Anfang an ein klein wenig „auf Krawall gebürstet“, sie will nicht wirklich die Rolle der „braven, gebärenden Frau am Herd“ erfüllen – und dafür, dass sie so ist wie sie ist, habe ich auch keine gute Erklärung. Es gibt immer Menschen, die anders sind und auch da macht dann das persönliche Kennenlernen des „Feindes“ sehr viel aus.
Anpassung und Mitgefühl können nur durch Begegnung entstehen.
Und es ist ja nicht nur Mitgefühl, Greta-Anna ist dem vertrocknenden Land genauso aufgeschmissen wie alle anderen, sie steht nicht „höher“ als sie, in einer kaputten Welt nützt auch ein elitärer Hintergrund irgendwann nichts mehr. Sie sieht die Wahrheit, die in der digitalisierten Welt den meisten privilegierten Menschen verborgen bleibt, die durch perfekte grüne 3D-animierte Wälder wandern.
Hinauszugehen und sich Dinge anzusehen, weg vom Bildschirm, ist manchmal eine gute Idee.
Peer Martin: Vielleicht, dass Mitgefühl immer existiert, es ist in uns allen angelegt, oft nur verschüttet. So wie das Gefühl für Gut und Böse.
Greta-Anna handelt anders als andere, trotz ihrer Erziehung. Ihre Eltern sind absolut system-konform, sind sogar ein wichtiger Teil des Apparats. Dennoch bricht sie aus den alten Mustern aus, ist eine Revolutionärin. Immer wieder gibt es solche Menschen – und ich hoffe, dass es sie immer geben wird. Warum sie anders sind als andere, warum hier etwas durchkommt, das bei anderen verborgen bleibt, weiß wohl niemand. Aber das Mitgefühl ist da, in jedem von uns. Es gibt also ein bisschen Hoffnung.
Inwiefern steht der alte Schriftsteller für die Rolle der Kunst und Literatur in autoritären Zeiten?
Antonia Michaelis: Er ist ein einzelner Mensch. Ob er ein Symbol ist, weiß ich nicht.
Das wäre verheerend, denn er bewirkt nichts. Oder beinahe.
Peer Martin: Er ist sehr passiv, hat eher eine erklärende Rolle, kommentiert Ereignisse aus intellektueller Perspektive, und das ist auch seine Tragik: Die Kunst verändert selten, sie kommentiert. Auch wir werden mit dem Buch nichts verändern, wir kommentieren. Vielleicht jedoch können unsere Kommentare den ein oder anderen dazu bringen, ein wenig nachzudenken.
Welche Rolle spielt die Jugend im Roman – und warum trauen Sie ihr (mehr als der Erwachsenenwelt) die Kraft zur Veränderung zu?
Antonia Michaelis: Ich kann mir gar nicht aussuchen, wer die Welt verändert. Es wird die Jugend sein MÜSSEN. Etwas anderes haben wir nicht. Außer, es landen plötzlich Marsianer auf der Erde.
Peer Martin: Die Jugend besitzt eine gewisse Art von Sturm und Drang, in allen Generationen, eine gewisse Art von impulsiver Unvernunft, von Trotz, der uns abgeht. Wir wissen immer schon, dass dies und jenes nicht funktioniert, dass es sowieso nicht geht, dass man es gleich lassen kann … wie oft sagen meine Kinder dann genervt: Papa, du hast es doch gar nicht ausprobiert!
Lass uns doch mal, sei doch nicht immer so negativ! Ich weiß noch, wie Hannah- Marie mit sechs Jahren Wale retten wollte, in dem sie kleine bunte Schilder bastelte, auf denen stand, die Leute sollten ihnen helfen. Und wie ich ihr sagte, das würde nichts nützen.
Sie hat nur trotzig den Kopf geschüttelt und ihre Schilder trotzdem aufgehängt, und ihre großen Brüder haben gegrinst und geholfen, und sie hatten etwas getan. Es waren wunderschöne Schilder, die Wale hatten alle möglichen Farben. Solange man nicht auch das Allerunsinnigste versucht, wird nichts sich ändern. Da hatten die Kinder recht.
Welche Reaktionen wünschen Sie sich von Leser*innen, insbesondere jungen Menschen?
Antonia Michaelis: Keine Ahnung. Ich erhoffe mir im Moment gar nichts. Es ist einfach das
Einzige, was ich tun konnte – außer, zu unterrichten, „ganz unten“, was ich auch tue, dort, wo mir die Nazi-Parolen jeden Tag um die Ohren fliegen.
Bei näherem Bedenken – es wäre schön, wenn alle jungen Leser sagen würden: DAS ist komplett unrealistisch und ein richtig blödes Buch – und wenn sie damit Recht behielten.
Peer Martin: Wie gesagt, ich wünsche mir, dass sie ein bisschen nachdenken. Das tun sie aber glaube ich sowieso. Vielleicht brauchen sie gar nicht so viel Input von uns Erwachsenen. Ich wünsche mir eigentlich, dass das Buch überflüssig ist.

