
„Ich habe eine schreckliche Angst vor dem Tod, und diese Angst treibt mich an, Geschichten zu schreiben, die die Welt öffnen, anstatt sie zu verschließen.“
Die Redaktion: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, „Sturm überm Winkelhaus“ zu schreiben, die Geschichte über eine Familie mit einer außergewöhnlichen Mutter?
Julia Kahrs: Ich glaube, dass ich alle meine verrückten Ideen von einem gut trainierten Vorstellungsmuskel habe. Als ich ein Kind war, hatten wir in der Schule ein Fach namens Fantasie. Seitdem habe ich überall Ideen gefunden, und ich mag es besonders, kleine, fast unbemerkte, düstere und gruselige Abweichungen in ein erkennbares und realistisches Alltagsumfeld zu setzen.
Irgendwann stellte ich mir eine Mutter vor, die ihre Kinder so sehr liebte, dass sie sie essen wollte. Dann dachte ich: Oh, wäre es nicht lustig, wenn sie sie tatsächlich essen wollte? Ich glaube, ich habe mich schon sehr früh in die Lage von Sam versetzt, denn ich hatte eine klare Vorstellung davon, wie die Fantasie eines Kindes ziemlich dunkle Wege gehen kann.
Plötzlich schrieb ich über eine kontrollierende Mutter, die sozusagen ihre Maske fallen lässt. Und ich habe mich gefragt: Warum will diese Mutter ihre Kinder essen? Was verbirgt sich hinter ihrem übersteigerten Kontrollbedürfnis?
Könnte es auf die eine oder andere Weise ein Ausdruck von Liebe und Schutz sein? Wovor hat sie in diesem Fall solche Angst? Ich lasse auch Sams Fantasie und detektivische Fähigkeiten mit dem Leser spielen, so dass der Leser und Sam gemeinsam ermitteln können.
Die Redaktion: Die Figuren in Ihrem Buch, vor allem die Mutter und die Kinder, machen eine Reihe von überraschenden Wendungen und Entwicklungen durch. Was war für Sie die größte Herausforderung beim Schreiben dieser Figuren?
Julia Kahrs: Eine meiner größten Herausforderungen beim Schreiben ist es, mich selbst zu beschränken.
Das war auch hier der Fall. Ich lasse mich leicht mitreißen, und es gibt eine Menge Dinge, die ich gerne über verschiedene Figuren und Situationen sagen würde. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich beim Schreiben dieses Buches einfach nur eine Menge Spaß. Ich habe das Glück, eine Autorin zu sein, die das Schreiben liebt.
Die Ich-Erzählung der Hauptfigur bietet viel Raum für Fehlinterpretationen, und ich habe die vielen Missverständnisse der Mutter sehr genossen.

Die Redaktion: Das Buch befasst sich auch mit Themen wie Kindesentführung und Kannibalismus. Wie sind Sie mit diesen sensiblen Themen umgegangen und welche Botschaft möchten Sie den Lesern vermitteln?
Julia Kahrs: Beim Schreiben denke ich nie darüber nach, ob das, was ich schreibe, für den Leser zu sensibel oder beängstigend ist. Die verschiedenen Themen entfalten sich beim Schreiben, und ich mache mir keine Gedanken über die Zielgruppe, sondern spreche das Kind in mir selbst an.
Davon abgesehen verwende ich viel Humor, und wegen des Humors erlaube ich mir viel mehr, als wenn ich ganz ernsthaft wäre. Für mich sind Humor und Surrealismus eine Art Freipass in die dunkelsten Ecken. Ich denke auch nicht daran, den Lesern bestimmte Botschaften zu hinterlassen.
Aber aus einer übergeordneten Perspektive denke ich, dass alle meine Bücher irgendwie versuchen, die Welt zu öffnen. Ich habe eine schreckliche Angst vor dem Tod, und diese Angst treibt mich an, Geschichten zu schreiben, die die Welt öffnen, anstatt sie zu verschließen.
Ich liebe „Was-wäre-wenn“-Geschichten und spiele gerne mit dem Gedanken, dass es in diesem Leben mehr gibt, als wir wissen, Dinge, die unvollendet sind, Strukturen, die nicht etabliert sind. Wenn man seiner Fantasie freien Lauf lässt, kann eine Art Großzügigkeit entstehen. Die Welt muss Andersartigkeit, auch in ihrer extremsten Ausprägung, annehmen und zulassen.
Für mich sind Fantasie, Spiel und Neugier die beste Medizin gegen Angst und Stagnation. Mir gefällt der Gedanke, meinen Horizont zu erweitern, hin und wieder nach oben zu schauen und die Existenz selbst zu hinterfragen. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf achte ich darauf, einem Kind niemals die Hoffnung auf das Leben zu nehmen.
Die Redaktion: Welche Reaktionen haben Sie bisher von den Lesern auf das Buch erhalten und was erhoffen Sie sich von der Lektüre des Buches?
Julia Kahrs: Die Reaktionen waren überwältigend und sehr positiv. Ich glaube, ein paar Leser hatten Albträume, aber die meisten Leser haben das Buch wirklich genossen, vor allem, weil sie die Rätsel gemeinsam mit Sam lösen können. Einige Dinge bleiben unbeantwortet, und ich habe eine Menge Fragen dazu, was mit Sams Kaninchen passiert ist.
Das Buch hat auch einen Preis namens „Bokslukerprisen“ gewonnen. Das ist ein norwegischer Preis, bei dem 120.000 Kinder über ihr Lieblingsbuch abstimmen. Mein Buch hat auch schon andere Preise gewonnen, aber dieser bedeutete mir sehr viel, weil die Leser selbst den Gewinner auswählen. Ich habe mit Lesern gesprochen, die mir sagten, sie hätten noch nie ein so langes Buch gelesen.

Das gibt mir das Gefühl, dass ich etwas Großartiges geleistet habe, wenn ich Kinder in das Buch gelockt und sie zu Lesern gemacht habe.
Norwegische Kritiker- und Pressestimmen zu „Sturm überm Winkelhaus“
In vielen Klassen weckte das Siegerbuch so viel Interesse, dass die Lesezeit verlängert werden musste. Die Kinder waren so neugierig, dass sie einfach weiterlesen mussten.
… Uns gefallen die Figuren besonders gut, weil sie ein bisschen anders sind und man nicht immer vorhersehen kann, wie sie reagieren werden. Das Buch hat eine clevere Geschichte und ein überraschendes Ende. Aus der Jurybegründung des Bokslukarpreises
Julia Kahrs
STURM ÜBERM WINKELHAUS
Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim
Einband und Vignetten von Kristina Kister
256 Seiten. Gebunden. Ab 10 Jahren
Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger
Erscheinungstermin: 13. September 2024
Zum Buch
- Interview mit Unterstützung des Oetinger Verlages